Wirklichkeit und Oberfläche

Heute Nacht träumte ich vom Weihnachtsmann. Halbtot lag er im Schnee. Legte ihn auf die Rückbank meines Autos. Breitete Decken über ihn und langsam taute er auf. Seine Züge belebten sich, doch noch immer strahlte er eine tiefe Traurigkeit aus… vielleicht war es falsch ihn zurückzuholen…
Ich mochte den Weihnachtsmann eigentlich nie. Wahrscheinlich habe ich ihn als Kind immer mit dem Nikolaus gleichgesetzt, der mir reichlich suspekt war, weil er gemeinsame Sache machte mit diesem anderen Typen, der die Kinder schlägt. Ich war glaub ich in meiner frühkindlichen Phase eher ein Christkind-Typ, wenn ich mich recht entsinne, wobei ich kein Bild hatte von ihm/ihr. Nur irgendwas mit Glöckchen und eine diffuse vernebelte Heiligkeit.

Für mich ist der Weihnachtsmann ein Symbol für Illusionen, für kindliche Wunschvorstellungen, für das Festhalten an heiler Welt… vielleicht ja das Problem, dass ich Optimismus immer als eine Variante des Stockholm-Syndroms ansehe… Fröhliche Menschen mir erstmal suspekt sind… Ich mich frage, ob sie den Bruch noch vor sich haben, oder es nur blendend beherrschen ihn zu überspielen…

Es fällt mir schwer zu schreiben, den Blog weiterzuführen. Weil ich mich nicht öffnen kann, nicht den Mut habe über das zu schreiben, was mich belastet, was über mir liegt wie ein dicke Schicht aus Asche und mich nicht atmen lässt.
Würde mich gerne in die Schönheit der Worte flüchten, aber da ist nichts, das in mir atmet und Ausdruck sein möchte. Nur ein Verlangen und Sehnsucht. Der banale Wunsch nach Zärtlichkeit und Vergessen durch Nähe. Jetzt schläft es unter deinen Lidern, und Worte würden uns nur wecken.

Ich schaffe keine Disziplinierung. Lese kaum mehr. Schaffe keine Bücher. Schaffe keinen Ausdruck.
Musste über eine Äußerung bei Hermann Broch lachen. In einem seiner vielen poetologischen Aussprüche spricht er von der „Vollwirklichkeit“, in die die Poesie führen müsse. Nicht nur Schönheit solle sie verkörpern, sondern sie müsse auch wahr sein und wirklich.
Und ich empfinde genau das Gegenteil: mich führt die Beschäftigung mit Büchern im Augenblick raus aus der Wirklichkeit. Früher war es die eskapistische Funktion der Literatur, die mich anzog, heute bin ich so mit Realität aufgesogen, dass mir diese Suhrkamp-Bände aus den 60er Jahren ein unbestimmtes Grausen einflößen. Sie entfernen mich so von Realität. Als müsste ich eine ausgestorbene Sprache erlernen, Grammatikregeln befolgen, die mir nichts nützen…
Und so bin ich wohl wie der Lucius im „Tod des Vergil“, „ihm war die Oberfläche schon Wirklichkeit“; und weiter: „[W]er einen Vers als solchen lobt, ohne die sich vom Vers gemeinte Wirklichkeit zu kümmern, der verwechselt das Erzeugende mit dem Erzeugten…“.

Vielleicht ist das die Wurzel des Unbehagens: die ungelöste Frage: bin ich in der Oberfläche oder bin ich in der Wirklichkeit? Und was ist das geistige Leben nun für mich? Ist es eine ausgetretene Straße, eine Sackgasse oder ist es eine vorübergehende Verblendung, dass ich den Ewigkeitsgehalt des Geistigen nicht mehr spüren kann?

(Witzigerweise läuft auf meinem MP3-Player gerade der Song „Disillusion“ von ABBA; ich mag solche Synchronizitäten…).

Dieser Beitrag wurde unter Literatur, Seelisches abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

9 Antworten zu Wirklichkeit und Oberfläche

  1. fifteenfeet schreibt:

    „Es fällt mir schwer zu schreiben, den Blog weiterzuführen. Weil ich mich nicht öffnen kann, nicht den Mut habe über das zu schreiben, was mich belastet, was über mir liegt wie ein dicke Schicht aus Asche und mich nicht atmen lässt.“
    Bei diesen Worten bin ich ganz bei dir… (u.a. auch bei der mangelnden Disziplinierung).

    „„[W]er einen Vers als solchen lobt, ohne die sich vom Vers gemeinte Wirklichkeit zu kümmern, der verwechselt das Erzeugende mit dem Erzeugten…“.“
    Auch das kommt mir lange vertraut vor. Ich sehe es heute so: Es ist nicht von Belang was das Erzeugende war, sondern einzig und allein was erzeugt wurde.
    Worte…Verse… zu schreiben kann niemals nicht zum Ziel haben, den Schreibenden zu erkennen, man kann als Schreibender allenfalls dankbar sein, wenn es so ist. Man kann zufrieden sein, wenn es beachtet wird, in welcher Form auch immer.
    Sofern ich deine Zitate richtig verstanden habe. 🙂

    Wir sind immer in Bewegung. Auch ein vorübergehender Stillstand ist eine Bewegung – ins momentane Nichts. Vielleicht ist es aber so, dass je mehr (je älter man wird) man sieht, desto weniger will man wahrhaben (gleichgültiger wird man), weil klar wird, es IST NICHT zu ändern. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann man es akzeptieren und gut damit leben kann oder daran zugrunde geht.

    Ist dir schon mal aufgefallen, dass man „am Schönsten“ schreibt, wenn man sich am Schlechtesten fühlt?
    Bleib uns bitte hier erhalten.

    sehr liebe Grüße
    fifteenfeet

    Gefällt 2 Personen

    • purpurtraum schreibt:

      Danke dir liebe fifteenfeet!
      Die Zitate sind in der Tat nicht einfach zu verstehen. Ich bin nicht mal sicher es selbst verstanden zu haben. Ich verstehe es so, dass die Wahrheit in den Worten wichtiger ist als die bloße Schönheit des Geschriebenen. Oder dass im besten Fall beides zusammenkommen sollte. Das impliziert wohl in gewissem Maße ein Ausklammern der subjektiven Perspektive (Erzeugende) zugunsten der Wahrheit der Worte (Erzeugtes). So ähnlich vielleicht…
      Wenn man sich sehr schlecht fühlt und dann schreiben kann, dann ist es was Schönes, ja. Aber wie oft fühlen wir uns schlecht und können gerade dann nicht schreiben oder in Worte fassen, weil ja die Worte wie kontaminiert sind. Die Worte klingen nicht. Ähnlich wie Musik wenn man sehr müde und erschöpft ist. Sie wird dann plötzlich zu störendem Geräusch. Genauso können Worte ihre sprachmagische Wirkung einbüßen und zu bloßem „Gerede“ werden.
      liebe Grüße!

      Like

  2. hannahbuchholz schreibt:

    Lieber Tristan,

    kennst du das Buch: „Der Weg des Künstlers“?
    Das kann ich dir empfehlen – und das würde ich dir gerne ans Herz legen!
    Es ist sehr leicht zu lesen, es eignet sich also auch sehr gut für Lebensphasen, in denen man nicht so konzentriert lesen kann… Man kann es auch häppchenweise lesen, in ganz kleinen Häppchen.
    Es geht hier – bei dieser Lektüre – um alles andere als um Eskapismus –
    ich würde eher sagen, das Buch bildet eine Schnittstelle zwischen den verschiedenen Welten und den verschiedenen Wirklichkeiten….

    Liebe Grüße!
    Hannah

    Gefällt 1 Person

    • purpurtraum schreibt:

      Liebe Hannah,
      Das Buch kenne ich nicht. Habe mir ein paar Rezensionen darüber durchgelesen. Klingt interessant, gerade der Zusammenhang zwischen Blockierung und Kreativität. Werde mal hineinlesen in der nächsten Woche.

      Sei lieb gegrüßt!

      Gefällt 1 Person

  3. Ariana schreibt:

    Ich mag deine Poesie sehr und irgendwann fließen bestimmt wieder die Worte lieber Tristan. 🙂
    Poesie ist nicht immer nur Schönheit, es ist meines Erachtens Empfindung, etwas steigt auf aus den Tiefen der Seele und manchmal ist es Schmerz oder Schatten und auch das möchte zu Wort kommen.
    Wenn du anfängst, über das zu schreiben was dich belastet, löst sich vielleicht die Blockade und die Worte fließen wieder und sei es, du schreibst nur für dich. Ob du es veröffentlichst kannst du dann immer noch überlegen.
    Liebe Grüße Ariana

    Gefällt 2 Personen

    • purpurtraum schreibt:

      Liebe Ariana,
      ganz richtig: „etwas steigt auf aus den Tiefen der Seele“, „möchte zu Wort kommen“… wenn es das aber nicht kann, dann lastet es nur umso mehr. Die Blockierung trübt die Empfindung für anderes. Aber es gibt Hoffnung, dass das bald vorbei ist. Gerechtigkeit wieder hergestellt wird.
      Danke dir für deinen schönen Kommentar!

      Gefällt 1 Person

    • Ariana schreibt:

      Ich freue mich, dass es Hoffnung bei dir gibt. 🍀🌞

      Like

  4. Bitte.. nicht aufhören zu schreiben, Lieber! Dich und deine wunderbaren Gedichte würde ich hier schmerzlichst vermissen…

    Gefällt 2 Personen

Hinterlasse einen Kommentar